Die
Übersicht enthält die Verfahren, die nach dem 8.Mai 1945 vor
niederländischen Gerichten gegen insgesamt 239 Deutsche und
Oesterreicher wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die
Menschlichkeit sowie wegen anderer besatzungs- und
kriegsbedingten Straftaten stattgefunden haben.
Anders als bei den west- und
ostdeutschen Verfahren beschränkt diese Übersicht sich somit
nicht auf Tötungsverbrechen.
Die Verfahren wurden ähnlich wie
die in dieser Website aufgenommenen deutschen Strafverfahren
beschrieben und erschlossen. Bei den niederländischen
Verfahren wurden allerdings zwei zusätzliche Kategorien
gebildet:
eine Kategorie "Nach
Deutschland abgeschoben":
hier kann festgestellt werden,
wann die betr. Person aus den Niederlanden abgeschoben und
damit wie lange der betr. Verurteilte seine Strafe verbüsst
hat
eine Kategorie "Sonstige
Hinweise":
diese enthält Erläuterungen
mancher Urteile, Mitteilung über die gnadenweise Umsetzung
von höheren in niedrigere Strafen, Hinweise auf mit dem
betr. Verfahren zusammenhängende andere (deutsche und
niederländische) Verfahren sowie auf Veröffentlichungen
(meistens in englischer Sprache) über das betr. Verfahren.
Die Verfahren sind chronologisch
nach dem Datum der das Verfahren abschliessenden
rechtskräftigen Entscheidung der Tatsacheninstanz geordnet
und mit der laufenden Nummer NL001 - NL241 versehen worden.
An Hand der uns vorliegenden
Materialien konnten in Bezug auf die Tatumstände in einer
Reihe von Fällen keine sicheren Feststellungen getroffen
werden. In solchen Fällen haben wir uns dafür entschieden in
der betr. Kategorie 'unbekannt' zu vermerken. Davon sind
insbesondere die Kategorien Tatzeit, Tatort und, wenn auch
in geringerem Masse, die Kategorie der Opfer betroffen. Wir
bemühen uns um Abhilfe in der kommenden Zeit.
Der Ausgang der
Verfahren
Von den 3 weiblichen und 236
männlichen Angeklagten
wurden
freigesprochen 10,7 %
wurde das Verfahren
eingestellt bei 4,2 %
wurden verurteilt 85,1 %
Die Strafen
Verurteilt wurden
zur
Todesstrafe: 7,5%
zu lebenslänglich: 2,5%
zu einer zeitigen
Freiheitsstrafe
bis zu einem Jahr: 2,5%
von 1 bis 5 Jahren: 23,6%
von 5 bis 10 Jahren: 22,4%
von 10 bis 15 Jahren: 12,4%
von 15 bis einschl. 20 Jahren:
14,5%
▲
Die
Vollstreckung der Strafen
Todesstrafen
Vollstreckt wurden 5
Todesstrafen (Verfahren NL004, NL010, NL043, NL067, NL134).
Bei 4 Todesstrafen handelte es sich um ein
Abwesenheitsurteil; diese Verurteilten konnten auch später
nicht verhaftet werden, sodass diese Strafen nicht
vollstreckt wurden. Einer dieser Verurteilten war - wie erst
nach 1990 bekannt wurde - in der DDR wegen derselben Tat
bereits ein Jahr vor dem niederländischen Urteil zu 15
Jahren Zuchthaus verurteilt worden - siehe Verfahren NL113.
Die übrigen 9 Todesstrafen wurden
in lebenslängliche Freiheitsstrafen und - bis auf einen
Fall, wo der Verurteilte vorher in der Haft verstarb -
später in eine zeitige Freiheitsstrafe umgewandelt.
Lebenslängliche
Freiheitsstrafen
Alle lebenslängliche
Freiheitsstrafen sind in zeitige umgewandelt worden. Der
letzte zu einer solchen Strafe Verurteilte wurde Mai 1960
aus der Haft entlassen.
Zeitige Freiheitsstrafen
Diese sind im allgemeinen (und
insbesondere bei zeitigen Freiheitsstrafen von mehr als 1
Jahr) nur zu 2/3 verbüsst worden.
Bei 4 zu zeitigen Freiheitsstrafen
Verurteilten konnte die Dauer der Strafvollstreckung nicht
festgestellt werden. Zwei zu 12 bzw. 7 Jahre Verurteilte
flohen 1949 bzw. 1950 aus der Haft.
Weitere Zahlen
Fünf Jahre nach Kriegsende, am
8.Mai 1950, waren noch 146 Personen in Haft, 2 Jahre später
noch 81. Zehn Jahre nach Kriegsende betrug diese Zahl 49.
Ende 1960 waren alle Verurteilten
entlassen worden bis auf 4 ursprünglich zum Tode
Verurteilte, deren Strafe inzwischen in eine lebenslängliche
Freiheitsstrafe umgewandelt worden war. Einer wurde Juni
1966 krankheitshalber vorzeitig entlassen (Fall NL171).
Gegen die Entlassung der drei übrigen formierte sich Anfang
der siebziger Jahre in Opfer- und Widerstandskreisen eine
starke Opposition, die einen beträchtlichen Widerhall in der
niederländischen Bevölkerung und im Parlament fand. Nach
einigen fehlgeschlagenen Anläufen, konnte die Regierung
schliesslich 1989 die letzten zwei im Gefängnis Breda
einsitzenden Verurteilten entlassen (Fälle NL095 und NL199).
Der Dritte (Fall NL046) war vorher in der Haft verstorben.
Die überlange Haft dieser drei, deren Vorgesetzte und
Kollegen spätestens seit 1966 auf freiem Fuss waren, ist
kein Ruhmesblatt der niederländischen Nachkriegsjustiz.
▲
Die Verfolgung und
Aburteilung
Der
Zeitrahmen
Das erste Urteil gegen einen
Deutschen erging September 1945 und betraf eine recht
unbedeutende Denunziation, die mit 6 Monaten Gefängnis
geahndet wurde. Im Jahre 1946 kamen 3, in den ersten Monaten
des Jahres 1947 2 Verfahren zum Abschluss. Mit Ausnahme des
Verfahrens NL004 handelte es sich durchweg um Fälle
untergeordneter Bedeutung, wobei die Straftaten fast immer
von (ausländischen) Privatpersonen, nicht aber von Organen
der Besatzungsmacht in amtlicher oder dienstlicher
Eigenschaft begangen worden waren.
Dann kommt - infolge einer
gesetzlichen Unterlassung, auf die unten näher eingegangen
werden wird - die Strafverfolgung deutscher und
österreichischer Täter nahezu völlig zum Stillstand. Erst ab
Ende April 1948, nach einjähriger Unterbrechung, fanden
wieder Gerichtsverhandlungen statt. Als erstes erging, Mai
1948, das auf Todesstrafe lautende Urteil gegen den Höheren
SS- und Polizeiführer in den Niederlanden, den Oesterreicher
Hans Albin Rauter (NL010). Dem folgten 1948 44, 1949 147,
1950 33 und 1951 4 Verfahren. Damit war - abgesehen von
einem Wiederaufnahmeverfahren aus dem Jahre 1957 und von
einem Verfahren im Jahre 1980, das sich mit der recht späten
Berufung gegen ein Abwesenheitsurteil aus dem Jahre 1949
befasste - in den Niederlanden die Strafverfolgung
ausländischer Täter wegen Straftaten begangen im zweiten
Weltkrieg zu Ende.
Der rechtliche Rahmen
Die Grundlage für die Ahndung von
mit Krieg und Besatzung zusammenhängenden Straftaten
niederländischer und ausländischer Täter bildete
grundsätzlich das Strafgesetzbuch und die
Strafprozessordnung in der bei Kriegsanfang bestehenden
Fassung. Allerdings wurden 1943 von der Exilregierung in
London einige Änderungen und Ergänzungen beschlossen, die
auch nach dem Kriege weitgehend beibehalten wurden.
In materiellrechtlicher Hinsicht
ist vor allem die Einführung zweier Tatbestände von
Bedeutung, durch welche sich strafbar machte
- wer jemanden der Verfolgung
durch die Besatzungsmacht (z.B. durch Denunziation)
auslieferte
und
- wer sich unter Ausnutzung der
Besatzungsverhältnisse an fremdem Eigentum bereicherte.
Deswegen sind aber vor allem
Niederländer und einige ausländische Privatpersonen
abgeurteilt worden. Denn als die Gerichte erster Instanz
auch Angehörige der deutschen Besatzungsmacht wegen dieser
Strafbestimmungen (und wegen Mordes, Raubes u.ä.)
verurteilten, stellte das Revisionsgericht sich quer: diese
seien, soweit sie in amtlicher oder dienstlicher Tätigkeit
handelten, dem Völkerrecht und allenfalls ihrem eigenen -
deutschen - Recht, nicht aber dem nationalen
niederländischen Recht unterworfen. Wegen
Völkerrechtsverletzungen, begangen auf niederländischem
Territorium oder an Niederländern im Ausland unterlägen sie
nach dem Völkerrecht zwar durchaus der niederländischen
Strafgewalt und könnten somit von niederländischen Gerichten
bestraft werden. Nur habe, so das Revisionsgericht, die
niederländische Regierung es versäumt, die
Völkerrechtsverletzungen (Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen
die Menschlichkeit) als
solche mit Strafe zu
bedrohen und den niederländischen Richter zur Aburteilung
dieser Straftaten,
begangen durch Angehörige feindlicher Organe, zu ermächtigen
(Verfahren NL172).
Durch diese Revisionsentscheidung
kam, wie oben dargelegt, die Ahndung von Verbrechen,
begangen durch Deutsche und Oesterreicher, weitestgehend zum
Stillstand. Erst nach Verabschiedung einer Gesetzesänderung
im Juli 1947, durch welche den Auflagen des
Revisionsgerichts entsprochen wurde, nahm die
Strafverfolgung wieder ihren Lauf. Es sollte aber bis Mai
1948 dauern, bis das erste Urteil auf dieser Grundlage
erging (Verfahren NL010).
Diese Verzögerung hatte zwar zur
Folge, dass die Untersuchungshaft sich verlängerte, sie
wirkte sich aber für die schwererer Verbrechen Überführten
eher vorteilhaft aus: sie wurden abgeurteilt in einer Zeit
als die erste Wut und die grösste Empörung über die
NS-Verbrechen schon etwas abgeklungen war und das anfänglich
doch recht hohe Strafniveau schon wieder nach unten
tendierte.
In prozessualer Hinsicht
ist vor allem von Bedeutung, dass die Aburteilung ausserhalb
der ordentlichen Gerichtsbarkeit durch 5 sog. 'Besondere
Gerichtshöfe' in der ersten Instanz und ein 'Besonderes
Revisionsgericht' in der obersten Instanz stattfand.
Allerdings wurden diese Gerichte 1952 aufgehoben und die
dann noch anstehenden bzw. später anfallenden Strafsachen
dieser Art 'Besonderen Strafkammern' bei den Landgerichten
bzw. dem Hohen Rat der Niederlande als ordentlichem
Revisionsgericht übertragen.
Dass diese ebenfalls 1943 von der
niederländischen Exilregierung in London geschaffene
Regelung sowohl für Niederländer als für Ausländer galt und
auch nach Kriegsende mit geringen Änderungen vom Parlament
aufrecht erhalten wurde, kann natürlich nicht darüber
hinwegtäuschen, dass hier
Sondergerichte zur
Aburteilung von Verbrechen von Kollaborateuren, Nutzniessern
und Angehörigen feindlicher Organe geschaffen worden waren.
Das begründet einen gewissen Anfangsverdacht, die
Rechtsstaatlichkeit dieser sondergerichtlichen
Rechtsprechung sei nicht gegeben.
Aufschlussreicher als das, was die
Niederländer dazu meinen (sie hielten und halten die
Rechtsstaatlichkeit sowohl formal als materiell durchweg für
gegeben) ist wohl das Urteil von deutschen Gerichten, die
mit dieser niederländischer Rechtsprechung konfrontiert
wurden.
Das war 1980 der Fall, als der im
Verfahren NL088 abgeurteilte Angeklagte vor einem deutschen
Gericht stand wegen des Verdachts, in den letzten
Kriegstagen in den Niederlanden zwei Juden erschossen zu
haben (Verfahren JuNSV Lfd.Nr.859). Die von dessen Anwalt
vorgetragenen Bedenken, bei den niederländischen Gerichten
handele es sich um ein Ausnahme- oder Sondergerichte, die
mit der niederländischen Verfassung nicht vereinbar und
deshalb nicht wirksam errichtet worden seien, wies das
deutsche Gericht als unzutreffend zurück.
"Die
niederländischen Sondergerichtshöfe", so das
deutsche Gericht, "sind zwar nur durch Beschluss der
niederländischen Exilregierung in London vom 22.
Dezember 1943 (Nr. D 62) zur Zeit verfassungsrechtlichen
Notstandes eingerichtet, doch sowohl von den
niederländischen Nachkriegsregierungen wie auch vom
Parlament und der niederländischen Rechtsprechung -
soweit ersichtlich ausnahmslos - aber als legal
angesehen und bestätigt worden. Zudem waren die
Sondergerichtshöfe keine unzulässigen Ausnahmegerichte.
Sie waren vor Begehung der den Angeklagten zur Last
gelegten Taten für bestimmte, abstrakt geregelte
Sachgebiete errichtet und generell nicht nur zur
Entscheidung eines oder mehrerer Einzelfälle oder nur
bestimmter Personen eingesetzt. Die Vorschriften über
ihre Errichtung und Besetzung und das nach der
niederländischen Strafprozessordnung gehandhabte
Verfahren erfüllten alle wesentlichen Anforderungen an
rechtsstaatliche Gerichtsverfahren, wovon sich die
Kammer anhand der mit den Verfahrensbeteiligten
erörterten einschlägigen niederländischen Bestimmungen
und dem erörterten formellen Inhalt der
Sitzungsprotokolle des Sondergerichtshofes überzeugt hat
und wie zudem es die Zeugen V. (heute Amtsrichter) und
M. (heute Professor für Strafrecht), die damals als
bereits examinierte Juristen als Protokollführer und
Abfasser von Urteilsentswürfen an den Verhandlungen des
Sondergerichtshofs in Groningen mitgewirkt haben,
bestätigt haben. .... Die am niederländischen
Vernehmungsort erforderlichen Förmlichkeiten sind bei
den nach den dort gültigen Rechtssätzen stattgefundenen
Vernehmungen berücksichtigt worden. Es handelte sich um
richterliche Vernehmungen, weil die Mitglieder des
Sondergerichtshofes im niederländischen Rechtsgefüge die
Stellung von Richtern einnahmen; mindestens 2 der
jeweils 3 Mitglieder des Sondergerichtshofes waren
rechtsgelehrte Richter der niederländischen ordentlichen
Gerichtsbarkeit."
Für ein
negatives Pauschalurteil, basierend auf der Tatsache, dass
es sich hier um Sondergerichtsurteile gehandelt hat, ist
somit auch nach Ansicht der Justiz des ehemaligen
Kriegsgegners kein Raum.
Das bedeutet natürlich nicht, dass
alle niederländische Urteile gegen Deutsche und
Oesterreicher wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen
die Menschlichkeit Sternstunden richterlichen Wirkens sind,
wenn auch Gerichte in einer Reihe von Verfahren durchaus
Verständnis für die Verhältnisse gezeigt hatten, unter denen
Angehörige der Besatzungsbehörden arbeiten mussten (vgl.
z.B. NL033, NL034, NL037, NL068, NL073, NL099, NL176, NL203,
NL231).
Die Täter- und Opferausrichtung
der Strafverfolgung
Die
niederländische Strafverfolgung stand im Zeichen der
wiedergewonnenen Freiheit und Unabhängigkeit und des dazu
gegen die Besatzungsmacht und ihre Helfer geleisteten
Widerstandes. Die Verfolgung von Straftaten begangen im
Rahmen dieses Kampfes haben eine eindeutig höhere Priorität
bekommen als solche, die sich gegen Bevölkerungsgruppen
ihrer 'Rasse' oder Abstammung wegen richteten. Das spiegelt
sich in dem recht geringen Prozentsatz der Verfahren mit
jüdischen Opfern wieder (19%, eine Zahl die sich allerdings,
weil bei 48 Verfahren die Opfer nicht eindeutig festgestellt
werden konnten, noch etwa erhöhen könnte).
Diese Verfolgungsausrichtung
einerseits und die Behandlung dieser aussergewöhnlichen
Kriminalität nach einem traditionellen, auf die üblichen
Straftaten zugeschnitten Erfahrungsmuster - und damit die
Verkennung der besonderen Art dieser Staatsverbrechen -
andererseits, haben dazu geführt, dass die niederländische
Strafverfolgung sich vor allem auf zwei Kategorien von
Tätern konzentriert hat
einmal
auf die 'tatnahen' oder 'eigenhändigen' Täter, die letzten
Glieder in der Verbrechenskette und
zum anderen
auf diejenigen, die als höchste Vertreter der damaligen
Machthaber in Erscheinung getreten und für ein breiteres
Publikum zu Exponenten des Regimes geworden waren.
Diejenigen, die weniger nach
Aussen in Erscheinung traten oder sich mit Tätigkeiten
beschäftigten, mit denen sich normalerweise nicht die
Assoziation eines Verbrechens verbindet - Verwaltung,
Justiztätigkeit und dergl. - sind auch dann von der
niederländischen Justiz kaum belangt worden, wenn sie auf
policy making level tätig waren oder die Art und Weise der
NS-Politik an hoher oder gehobener Stelle massgeblich
mitbestimmt hatten.
So ist beim Stab des Befehlshabers
der Sipo und des SD (BdS) die ganze obere und Mittelschicht
unbehelligt geblieben. Von der Präsidialabteilung des
höchsten Vertreters des Dritten Reiches in Holland, des
Reichskommissars Seyss Inquart - immerhin 137 Männer und
Frauen -, stand niemand vor Gericht, obwohl gerade von ihr
alle grundsätzlichen Richtlinien in Judenangelegenheiten
ausgegangen waren. Alle Angehörigen des Generalkommissariats
für Verwaltung und Justiz - in etwa mit dem Reichsinnen- und
Reichsjustizministerium vergleichbar - wurden genau so ohne
Prozess nach Hause geschickt wie die deutschen Richter, die
gegen etwa 750 Holländer Todesurteile verhängt hatten. Nur
bei einem Richter, dem Präsidenten eines Standgerichts,
wurde eine Ausnahme gemacht. Er wurde jedoch aus rechtlichen
Gründen freigesprochen mit einer Begründung, die auch vom
deutschen Bundesgerichtshof - bis er sich mit
Rechtsbeugungsfällen von DDR-Richtern konfrontiert sah -
gehegt und gepflegt wurde (siehe Verfahren NL236). Dass der
betreffende deutsche Standrichter einer der 5 höchsten
Beamten des mit der Judendeportation befassten Stabes des
BdS gewesen war, führte nicht einmal zur Anklage.
Urteile lesen
In der
Verfahrensbeschreibung ist in einer besonderer Kategorie
vermerkt, ob das Urteil veröffentlicht worden ist. Das ist
nur bei 35 Verfahren der Fall. Ausser bei den Verfahren
NL010 (HSSPF Niederlande) und NL017 (Wehrmachtsbefehlshaber
Niederlande) sind von diesen Urteilen nicht der volle
Wortlaut, sondern nur solche Teile abgedruckt, die
juristisch bedeutsam sind.
Aber auch wer über den
vollständigen Urteilstext verfügt, wird davon nur einen sehr
begrenzten Nutzen haben, es sei denn, sein Interesse an den
Verfahren ist ein strikt juristisches. Historiker,
Soziologen, Psychologen und andere kommen jedoch nicht auf
ihre Kosten. Das hängt mit der Technik der Beweiserhebung
und der Gestaltung von niederländischen Strafurteilen sowie
damit zusammen, dass die Rechtsprechung in den Niederlanden
ausschliesslich Sache von Juristen ist - Laien, in welcher
Form auch immer, werden nicht beteiligt.
Auf einen (etwas verkürzten)
Nenner gebracht, kann man sagen, dass aus einem
niederländischen Strafurteil zwar hervorgeht,
wie
der Richter, kaum aber
warum er so und nicht
anders entschieden hat. Eine einigermassen umfassende
Sachverhaltsdarstellung fehlt ebenso wie Ausführungen über
die Person des Angeklagten. Auch eine Erörterung der
Beweismittel, sowie eine Wertung oder eine Abwägung einander
widersprechender Beweismittel wird man im Urteil vergebens
suchen. Das beruht auf dem Umstand, dass der niederländische
Richter in seinem Strafurteil in aller Regel die ihm
vorgelegten Beweismittel nicht zu erörtern und seine Wahl
aus einander widersprechenden Beweismitteln nicht zu
begründen, ja nicht einmal anzugeben braucht, dass es solche
Widersprüche gab. Für die Strafzumessung reicht der Satz,
dass die verhängte Strafe 'der Persönlichkeit des
Angeklagten, der Schwere der Tat und den gesamten
Tatumständen' entspricht. Auch zur Begründung eines
Freispruchs aus tatsächlichen Gründen reicht ein ähnlicher
floskelhafter Satz.
Der Unterschied zu deutschen
Strafurteilen lässt sich am Besten an Hand des
niederländischen und des deutschen Strafurteils gegen den
bis September 1943 in Holland amtierende Befehlshaber der
Sicherheitspolizei und des SD verdeutlichen. Dieser wurde
1949 in Holland zu 12 Jahren Freiheitsstrafe (NL097), 1967
in München zu 15 Jahre Zuchthaus verurteilt (JuNSV
Lfd.Nr.645).
Das Münchner Urteil, das sich mit
seinem Anteil an der Judendeportation beschäftigt, umfasst
625 Schreibmaschinenseiten. Nach der Lektüre dieses Urteils
weiss man ziemlich genau, wie die Judendeportation in den
Niederlanden nach Ansicht des Gerichts vor sich gegangen ist
und welchen Tatbeitrag der Angeklagte dazu geleistet hat.
Die Dokumente werden durchweg in Wortlaut wiedergegeben.
Das niederländische Urteil umfasst
10 Seiten. Etwa 5 davon beschäftigen sich mit dem
Anklagepunkt Judendeportation. Hier verweist das Urteil auf
13 zum Beweis verwendete Dokumente, ohne dass deutlich wird,
was sie sachlich beinhalten. Und weiter findet man im Urteil
aus der Erklärung des Angeklagten in der Hauptverhandlung
sowie aus Protokollen von Vernehmungen weiterer 10 Personen
durch den Untersuchungsrichter oder durch die Polizei
jeweils genau die 3 bis 4 Sätze, die zum Beweis der
einzelnen Tatbestandsmerkmale erforderlich sind.
Strafakten einsehen
Wer an einem
bestimmten Fall interessiert ist, kommt deshalb nicht umhin,
die Strafakten beizuziehen. Hier kann er den Lauf der
Ermittlungen verfolgen sowie die Schriftsätze der Anwälte
und Staatsanwälte und die Protokolle der Vernehmungen des
Angeklagten und von Zeugen durch Polizei und
Untersuchungsrichter erforschen.
Die meisten Strafakten der
niederländischen Verfahren sind erhalten geblieben und
befinden sich beim Nationaal Archief, Prins
Willem-Alexanderhof 20, Postfach 90520, 2509 LM Den
Haag in den Niederlanden.
Die Strafakten haben allerdings
einen Nachteil mit den Urteilen gemeinsam: wer der
niederländischen Sprache nicht mächtig ist, dem werden auch
die Strafakten ein Buch mit sieben Siegeln bleiben.
Literatur: Dick
de Mildt und Joggli Meihuizen, '“Unser Land muss tief gesunken sein“. Die Aburteilung
deutscher Kriegsverbrecher in den Niederlanden’, in:
Norbert Frei (Hrsg.),
Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit
deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg (Göttingen
2006), 283-325.